Bobath-Therapie im Kontext des Familiensystems

Vortrag an der internationalen Tagung für Neurophysiologie cerebraler Bewegungsstörungen und Bobath-Therapie vom 02.-04.05.1996,
Dr. Saadi Jawad.


Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit Ihrem Baby zu einem Kinderarzt, der eine motorische oder anderweitige Entwicklungsstörung diagnostiziert. Sie sind schockiert und stellen Ihre eigenen Wahrnehmungen, Gefühle und Erwartungen in Beziehung zu Ihrem Kind in Frage. Habe ich etwas übersehen? Warum habe ich es nicht bemerkt? Stimmt das, was der Arzt sagt, oder stimmen eher meine Wahrnehmungen? Bestätigen sich Ängste, die ich mir durch den Kopf gehen ließ und Befürchtungen, die ab und zu mal präsent waren, die ich einfach auf die Seite geschoben habe, um Zeit und Raum für mein Kind freizuhalten? Aber dann komme ich auf die Idee, ich dürfte mich gar nicht mit all diesen Gedanken und Gefühlen auseinandersetzen und mich statt dessen auf Empfehlung des Arztes zu einer Therapie begeben, die einfach den befürchteten Zustand ungeschehen macht. Wenn dies passiert, dann kann ich da ansetzen, wo ich vor dieser Diagnose begonnen habe, so, als ob nicht passiert wäre. Also, je früher, je schneller, je intensiver die Therapie ist, je besser die Therapeutin oder die Methode, umso eher ist es möglich, dieses Ziel zu erreichen.

Nun kümmere ich mich um eine Behandlungsmöglichkeit, um einen guten Therapeuten, um eine gute Methode, nach Möglichkeit mehrere Kombinationen und zur Absicherung vielleicht auch mehrere gleichzeitige Konsultationen, um dahinzukommen, wohin ich will, um die begonnenen Erwartungen, Gefühle und Wahrnehmungen wiederherzustellen und da weiterzumachen, wo ich anfing, also vor der ärztlichen Diagnose. Natürlich, eine Therapie erfordert von mir einiges an Umorganisation, an Energie und Zeit. Natürlich habe ich auch Angehörige und Freunde, die mich bestätigen und die mich entlasten können, aber auch andere, die beschwichtigen und diese Diagnose in Frage stellen. Aber ich kann alles auf die Seite schieben und so tun, als ob dies kein Thema ist. Ob mein Partner will oder nicht, könnte ich doch eine Therapie in Anspruch nehmen. Ob meine Mutter auf frühere Erfahrungen verweist, könnte mich höchstens verunsichern, aber nicht davon abbringen.

Diese Mutter, die nichts von einer Entwicklungsstörung wahrnahm und sich mit ihrem Baby ganz anders beschäftigte, die ihren Alltag wegen des Babys sowieso umorganisierte, reagiert mit Angst, mit Verlust des Bodens unter ihren Füßen und mit Infragestellung ihrer eigenen Wahrnehmung. Aber wie geht sie damit um? Die hinzugezogene Therapeutin versucht , ihr die Wahrnehmung zu vermitteln, wie sich ein Kind im Alter ihres Babys bewegt und wie das Ziel sein wird und natürlich, wie man dahin kommt. Für diese verunsicherte Mutter bleibt keine andere Möglichkeit, als sich an diesem Zukunftsbild zu orientieren und somit wieder Boden unter ihren Füßen zu bekommen. In einem solchen therapeutischen Prozess fixieren sich Therapeutin und Mutter darauf, vorhandene und erwartete Bewegungsstrukturen zu registrieren und darauf hinzuarbeiten, eine normale Bewegungsstruktur zu erreichen. In vielen Fällen glückt es auch, und die Mutter kann diese Phase wegstecken, vergessen oder möglicherweise positiv bewerten.

Wie ist es, wenn innerhalb kurzer Zeit nicht dieses erwartete Ziel erreicht wird, wenn sich diese Mutter ständig mit ihren Ängsten konfrontiert fühlt und wenn sie keine Mühe scheut, alles daranzusetzen, dieses Ziel dennoch zu erreichen. In diesem Fall, den viele von uns kennen, wird die Aufmerksamkeit und die Energie dahin gerichtet, die momentane Situation weniger wahrzunehmen als eine Situation, in der die Störung behoben sein wird. Je deutlicher eine Störung ist, je älter das Kind wird, umso mehr dissoziieren sich Gefühle und Wahrnehmungen und umso mehr setzt sich möglicherweise diese Mutter unter Druck, noch mehr zu machen, um den alten Zustand ,möglicherweise, um den phantasierten Zustand zu erreichen. Diese Mutter macht alles, was ihr Hoffnung gibt, die Realität von heute zu verändern, sie wird den Blick von heute und hier auf morgen und nach vorne richten.

Genau an diesem Punkt fragen wir uns, was wohl in dieser Familie passiert ist, seitdem die Auffälligkeit diagnostiziert wurde, und wie sich diese Familie mit den Ängsten und Wahrnehmungen auseinandergesetzt hat.

Diese Mutter wird dann mit all ihren Ängsten und Hoffnungen, Erwartungen und Wünschen in eine solche Therapiesituation hineinkommen und alles daransetzen, damit der alte Zustand oder der alte Wunsch erreicht wird.

Nachdem wir in Therapiesituationen gesehen haben, wie unterschiedlich Bobath- Therapien ablaufen, obwohl es sich um die gleiche Therapeutin handelte, setzten wir alles daran, Beziehungen zwischen Familien und Therapie-System herzustellen und Parallelen zu entdecken. Diese Beobachtungen ließen uns häufig feststellen, dass Prozesse so ablaufen, wie sie vom Familiensystem vorgegeben sind, ob wir es wollen oder nicht. Wir fingen an, uns zu fragen, was wohl diese Störungen, z. B. sensomotorische Störungen, mit diesen Familien machen. Welche Möglichkeiten entwickeln diese Familien, wahrzunehmen oder nicht wahrzunehmen? Wie gehen sie mit ihren Gefühlen um, was löst diese Abweichung vom Idealbild aus? Was bewirkt die Angst vor Behinderung mit ihnen, wie reagieren Familien auf diese Veränderungen in Bezug auf ihre Kontakte nach außen? Wir stellen fest, dass die Auffälligkeiten, aber auch ihre Art, eine Veränderung in der Familienstruktur auslösen. Es verändert sich die Organisation der Familie, die emotionale Struktur und ihre eigene Wahrnehmung. Das drückt sich aus in der Form, wie Eltern die Entwicklung ihres Kindes sehen, wie sie Botschaften verbalisieren, wie sie Gefühle verdrängen und wie Kontakte nach außen und nach innen verändert werden.

Zu Beginn der Therapie gehen wir in der Regel an Mutter und Kind so heran, wie wir es gewöhnt sind; im Grunde nicht anders als die Mutter selbst, wenn sie ihr Baby bekommt, wie sich die Familie darauf einstellt und wie sie ihre Wünsche und Phantasien in Zusammenhang mit diesem Baby entwickelt. Wenn die Therapie gut geht, wird kaum einer danach fragen, wie dieser Prozess abläuft.

Aber die Schwierigkeiten in einem Therapieprozess machten uns hellhörig, und wir stellten fest, dass Auffälligkeiten beim Kind die Struktur der Familie einschließlich ihrer Phantasien in Bezug zu dem Kind verändern, aber auch, wie die entwickelte Dynamik in Zusammenhang mit der festgestellten Auffälligkeit, z. B. Resignation, Druck, Angst, Beschwichtigungen, Rationalisierungen, ihren Weg in das Therapiesystem findet. Natürlich finden Therapeuten intuitiv Wege, die zu einer Veränderung führen können. Wir beschäftigen uns in diesem Bereich mit den Prozessen, die zu einer Blockierung führten, wenn Therapeuten trotz ihres Bobath- Konzeptes, trotz ihres Einfühlungsvermögens nicht weiterkamen. Kinder entwickelten Strategien, die diese Therapien blockierten, durch Weinen, Sich-dagegen-wehren, Passiv-Sein usw., aber auch Mütter und Väter blockierten unbewusst den Therapieverlauf, so dass Therapeuten in eine Situation der Resignation, des Druckausübens, der Ängste vor der Zukunft, des Überoptimistischen hineinrutschten. Diese Therapeuten wurden in der Regel in einem derartigen Prozess so erlebt, dass wir feststellten, dass sich Familien und Therapiedynamik im Prozess nicht unterschieden, obwohl natürlich inhaltliche Unterschiede vorlagen. Therapeuten übernahmen in diesem neuen System Rollen; entweder Ersatzrollen für bestimmte Familienmitglieder, wie z. B. des strengen Vaters, der beschwichtigenden Großmutter oder der rivalisierenden Schwester, oder sie stabilisierten das System durch ihre Therapeutenrolle als jemand, der zwar beratend außerhalb des Familiensystems steht, aber stabilisierend für die gesamte therapeutische Dynamik ist. Wir sprechen in diesem Fall von Sackgassen im Therapiesystem. Signale auf diese Sackgassen geben uns die Verhaltensweisen, die Gefühle und Wahrnehmungen der Therapeuten, der Familie und die Entwicklung und das Verhalten des Kindes.

Somit traten für uns folgende Fragen auf:

1. Wie schildert die Therapeutin den Fall, was hat sie wahrgenommen
und was nicht?

2. Wie hat sich die Therapeutin erlebt, welche Gefühle und
Empfindungen bzw. Phantasien treten immer wieder auf in
Zusammenhang mit dieser Familie bzw. mit diesem Kind?

3. Wie gestaltet sich der Kontakt in dieser Therapie? Wie komme ich
mit dem, was ich will, weiter oder nicht? Wie entwickeln sich
Wünsche und Kontaktangebote seitens der Familie.

Wichtig war für uns, dass die Bobath- Therapeutin spürt, sich in solchen Sackgassen wahrzunehmen, ihre eigenen Gefühle und Phantasien ernstzunehmen und infolgedessen auch ein Gespräch in Bezug auf Betrachtung des Therapiesystems einzuleiten.

In diesen Gesprächen haben wir die Grenzen der Bobath- Therapie besser kennenlernen können, obwohl unserer Meinung nach das Bobath- Konzept ein dynamisches Behandlungskonzept ist, das Bewegung, System der Bewegung und Integration im Kontext der Gesamtbewegung, im Beziehungsfeld, in der Anpassung an die Bedürfnisse des Kindes und seine Situation im Hier und Jetzt beinhaltet. Wir betrachten die systemische Denkweise Bobaths, in der die Bewegung als neurophysiologisches System berücksichtigt und in die ökologischen Bedürfnisse und Notwendigkeiten im Kontext des Kindes einbezogen wird. In der weiteren Entwicklung dieser Therapiemethode ist das soziale System bewusst einbezogen.

Obwohl das Bobath- Konzept eine gute systemische, motorische Intervention ist, reicht, wie erwähnt, diese Therapie nicht aus, um die genannten Sackgassen zu überwinden.

In der Wahrnehmung dieser Schwierigkeiten und im Entwickeln eines systemischen Denkens im Team gelingt es uns, verschiedene Ebenen zu erfassen, indem uns die Symptomatik und Entwicklungsauffälligkeit des Kindes eine Informationsebene vermitteln. In Zusammenhang mit der Familiensystem-Ebene, Therapiesystem-Ebene und Teamsystem-Ebene haben wir die Möglichkeit, Sackgassen zu erkennen und Möglichkeiten zu entwickeln, der Bobath- Therapie zu ihrer vollen Wirkung zu verhelfen.

Das Konzept basiert auf folgenden Punkten:

1. Entwicklung einer systemischen Wahrnehmung, in der die Dynamik auf
verschiedenen Systemebenen, wie erwähnt, wahrgenommen wird.
Hierzu gehören Wahrnehmung der Dynamik, Definition des Problems
und Erfassen von Prozessen und der emotionale Faktor. Daher wird es
möglich, Botschaften aus den Systemebenen durch Mitteilungen,
Handlungen und Störungen zu erfassen.

2. Der Ansatz dieses Konzeptes beschränkt sich auf das Therapiesystem
und versucht, Selbsterfahrungsanteile der Therapeuten herauszuhalten.

Die Handlung der Therapeuten umfasst:

a.  Wahrnehmung der eigenen Rolle als Therapeut
b.  Überprüfung der eigenen Position, Rolle bzw. Haltung im
Therapiesystem
c.   Interventionen im Therapiesystem, indem neue Formen der
Interaktionen, Kontakte und Kommunikationsmuster entdeckt werden.

Wir stellen fest, dass die therapeutische Kreativität und Flexibilität wiedergewonnen wird, sobald die Therapeutin sich über die eigene Rolle im klaren ist. Wir gehen davon aus, dass eine Veränderung eines Teils in einem System auch eine Veränderung im gesamten System induzieren kann. Manchmal ist es hier auch notwendig, den Prozess mit der betreuenden Therapeutin zu bearbeiten und nach Wegen zu suchen, wie zwar Neues geschaffen, aber nicht das Familiensystem und sein Weltbild erschüttert wird, was in manchen Fällen zu einem Kontaktabbruch führen kann. Hier ist eine besondere Sensibilität für diesen Prozess erforderlich, damit nicht eine erneute Lähmung infolge eines Kontaktabbruches auftritt.