Kompetenz und Herausforderung

Vortrag zur Einweihung des neuen SPZ am 26.11.2004,
Dr. Saadi Jawad.


Sozialpädiatrische Zentren sind besonders seit der Gesetzgebung des Sozialgesetzbuches IX von der ambulanten Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten nicht wegzudenken.
Auch wenn die ca. 120 Zentren in Deutschland und 12 in Bayern in ihren Schwerpunkten unterschiedlich sind, sind sie in ihrem diagnostischen und therapeutischen Auftrag, ihrer interdisziplinären Zusammensetzung und ärztlicher Leitung ziemlich gleich

Die SPZ werden als Qualitätsmerkmal in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen angesehen, sie werden von Kliniken, niedergelassenen Ärzten, Therapeuten, FF- stellen, Beratungsstellen, Schulen, Schulpsychologen und Kindergärten in Anspruch genommen.
Das SPZ behandelt:

  • Alle Formen und Schweregrade von Entwicklungsstörungen einschließlich Epilepsie, und sonstigen organischen Erkrankungen des Nervensystems
  • Alle Formen von Verhaltensproblemen im psychosozialen Bereich, einschließlich Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität
  • Entwicklungs- und Bewältigungsprobleme chronischer Erkrankungen

Meine Damen und Herren, wenn ich hier von Kompetenz spreche, meine ich folgendes:

  1. Was hat das SPZ zu bieten? und
  2. Was unterscheidet das SPZ von anderen Einrichtungen?

Erst zu der Kompetenz des SPZ!

Die Kompetenz des SPZ liegt:

  1. in der Multiprofessionalität, da viele Sichtweisen mehr hergeben als eine Sicht!
  2. in der Ganzheitlichkeit, da die Orientierung am Kind in seiner Ganzheit mehr Vorteile mit sich bringt als eine defizitorientierte Sichtweise und eine an den Fähigkeiten des Kindes orientierte Förderung dem Kind eher gerecht wird.
  3. in der systemischen Familienorientierung, in der die Berücksichtigung und das Einbeziehen der Familien für die Entfaltung und Mobilisierung der Fähigkeiten eines Kindes eine besondere Rolle spielen.
  4. in der Beziehungsorientierung, da sich Schwierigkeiten besser überwinden lassen und Lernerfahrungen besser vermitteln lassen, wenn Kind und Eltern sich sicherer fühlen und Vertrauen haben.
  5. in der Interdisziplinarität, da Zusammenarbeit und bessere Abstimmung der mitwirkenden Mitarbeiter Problemen besser gerecht werden als ein allein und für sich arbeitender Therapeut es vermag.
  6. im therapeutischen Dreieck, da auch Probleme in einer Behandlung eines Kindes entstehen können, die vor Ort gelöst werden können durch Unterstützung des Therapeuten.

Neben der genannten qualitativen Herausforderung in der Basisarbeit des SPZ, in der Kinder und Jugendliche mit Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten diagnostisch und therapeutisch betreut werden, arbeiten wir an mehreren Schwerpunkten in Form von Spezialsprechstunden wie

Neuropädiatrie/Epilepsiebehandlung
Schreiambulanz und spezielle Betreuung von Frühgeborenen
Kinder- und jugendpsychiatrischer und psychosomatischer Schwerpunkt

Jetzt zu den Herausforderungen:
Besondere heute, in der Zeit der schnellen Veränderungen ist es erforderlich sich nicht nur mit den heutigen Realitäten einer Betreuung abzufinden, sondern wir müssen als moderne Einrichtung anbahnende und notwendige Veränderungen in den Familien, Schulen, Kindergärten und Gesellschaft beobachten und sich darauf reagieren.

Welche Herausforderungen stehen uns bevor?
Innerhalb der 10jährigen Arbeit in unserem SPZ stellen wir fest, dass auch Veränderungen in den familiären und gesellschaftlichen Strukturen uns veranlassen, uns über unsere zukünftige Arbeit laufend Gedanken zu machen.

Zu den Veränderungen zählen

  • Zunahme der Trennungen von Ehen und somit der Eltern und Zunahme der allein-erziehenden Eltern, was mehr Übernahme an Verantwortung und Belastungen für diese Eltern bedeutet.
  • Bildung von neuen Familienformen und Entstehung von zusammengesetzten Familien, die die Kinder veranlassen, flexibler zu werden, denn sie müssen sich auf ständige Veränderungen einlassen und sich neu anpassen.
  • Kinder erleben heute eine in vieler Hinsicht offenere Welt, was einerseits gut ist, aber andererseits auch schwierig, da sie bei diesen offenen Beziehungen weniger Grenzen erleben und dann erkennen. Sie haben mehr Konsum, Freiheiten und weniger verbindliche Strukturen.
  • Die Kinder erleben die Unsicherheit ihrer Eltern nicht nur in der Beziehung, sondern auch im realen Leben und Überleben,
    • wenn die Jobs der Eltern nicht mehr so sicher sind,
    • wenn ihr Wohnort oft wechselt und sie sich auf neue Beziehungen einlassen müssen.
  • Die Fremdunterbringung z.B. in Horten und Heimen lässt die Kinder zum Teil schwer ihre emotionale Spannung da abladen, wo die Beziehungsperson präsent und gefragt ist. Es ist nicht nur die Unterbringung selbst, sondern die fehlenden Zeitressourcen und die Verfügbarkeit. Die Beziehungsunsicherheit verstärkt die Angst der Kinder, sich mit ihren Eltern auseinander zusetzen. Die Konflikte entstehen da, d.h. in anderen sozialen Systemen wie Kindergärten, Schulen und Horten, wo sie nicht hingehören und wo sie nicht gelöst werden können. Diese delegierte Verantwortung verlagert sich.

Wir im SPZ erleben insofern:

  • Mehr Komplexität der Störungen, die komplexerer Lösungen bedürfen
  • Beschränkungen der familiären und elterlichen Unterstützung durch
  • – Überforderung der Familien,
  • – zeitliche Ressourcenbegrenzung und
  • – Schwierigkeiten, den Kindern ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken.
  • Probleme in den verbindlichen und zuverlässigen Lebens- und Kommunikationsstrukturen, was sich immer häufiger darin ausdrückt, dass Termine nicht wahrgenommen oder nicht abgesagt werden.

Wir sind als Institution gefordert verbindende Strukturen aufrechtzuerhalten und nicht verloren zu geben, aber gleichzeitig müssen wir auf diese Veränderungen in den familiären und gesellschaftliche Strukturen reagieren,

  • durch eigene Flexibilität bezüglich der Zeit und der Termine, was aber mehr Personal bedeutet.
  • durch schnellere Reaktionen auf die Bedürfnisse und Notsituationen, also als Feuerwehrfunktion
  • durch Organisation von Hilfen vor Ort
  • durch Schaffung von Entlastungsmöglichkeiten, da einige Eltern zu erschöpft sind, um selbst Veränderungen einzuleiten.
  • durch mehr Coaching, da Eltern heute oft nicht wissen, was und wie sie etwas tun und welchen Weg sie gehen könnten. Elementare Erziehungskompetenzen sind häufig nicht mehr zu erwarten und bedürfen eine direkte Unterstützung.

Abschließend möchte ich sagen, dass wir uns ständig bemühen, für Veränderungen und neuen Anforderungen hinsichtlich Konzepten und Arbeitsweisen offen zu bleiben, gleichzeitig ist es uns wichtig, Qualitäten wie Beziehung und Stabilität nicht außer Acht zu lassen oder zu vernachlässigen und das funktioniert nur durch die hervorragende Arbeit meiner Mitarbeiter, ihrem Engagement, ihrer beruflichen Erfahrung und nicht zuletzt durch die Konstanz im Team.

Dr. med. Saadi Jawad
Leitung des sozialpädiatrischen Zentrums Coburg
Bahnhofstr. 21-23
D- 96450 Coburg