Spielräume in der Kindertherapie – Wie gestaltet sich ein Raum, der hilft! –

Publikation in:
Frühförderung interdisziplinär 16.Jg.,
S.175-182 (1997),
Ernst Reinhardt Verlag München Basel,
Dr. Saadi Jawad.


In der Kindertherapie lassen sich Wege finden, auf denen versucht wird, mit Hilfe von Therapeuten in einem therapeutischen Rahmen eine Reifung bzw. Entwicklung eines Kindes so anzubahnen, dass Fähigkeiten im existentiellen, emotionalen und funktionalen Bereich Raum bekommen, eigene Entwicklungsräume entdeckt oder wieder entfaltet werden können, um wiederum eine Orientierung zu bekommen. Diese Orientierung hilft dem Kind in seinem sozialen Kontext, das eigene Leben entsprechend seiner Fähigkeiten zu gestalten, Gefühle auszudrücken und Funktionen auszuführen.

Auch bei organischen Schädigungen lässt sich in einem therapeutischen Prozess ein Raum finden, in dem das Kind eigene Fähigkeiten entwickeln kann, da das Kind auf Grund der Schädigung in seinem bisherigen Kontext und in seinem bisherigen Prozess nicht in der Lage war, entsprechende Reifungsräume zu entwickeln, so dass durch die Thera­pie eine neue Chance entsteht, in einem Prozess sogenannte Heilungsräume aufzubauen, die sich in Lebensräume des Kindes übertragen lassen und dem Kind neue Wege öffnen.

Das Wort Spielraum beinhaltet die Teile Spiel und Raum, d.h. Raum zum Spielen, bezogen auf die Realität, dass man Räume schafft, in denen gespielt wird, oder Spielraum, bezogen auf einen sym­bolischen Sinn, der innere Bedürfnisse und äußere Gegebenheiten verbindet. Hier können innere Vorstellungen und Bedürfnisse im Kontakt zu äußeren Gegebenheiten Raum bekommen, sie können Gefühle, Ideen oder Phantasien sein, die im Kontakt mit anderen ausgedrückt oder zurückgehalten werden. In diesem Kontaktraum findet sich etwas Konstantes, Rituelles, Wiederkehrendes, Rhythmisches und wiederum Veränderndes, Unüberschaubares, Irrationales, Unberechenbares, Chaotisches. Aus beiden (Konstanten und Varianten) „Räumen“ bekommt das Kind die Möglichkeit, so­wohl Geborgenheit und Verschmelzung, als auch Herausforderung, Auseinander­setzung und Abgrenzung zu finden.

Innere Räume – äußere Räume

Wir haben insofern eigene, innere Räume, in denen das Kind seine Gedanken, Ge­fühle und Bedürfnisse entwickeln kann, auf der anderen Seite äußere Räume, in de­nen diese Bedürfnisse und Fähigkeiten Raum bekommen, so dass innere Räume in äußeren Räumen Verwirklichung und Realisierung finden. In den äußeren Räumen sind Begrenzungen, Vorbilder, Leiterfunktionen, Forderungen und Überforderungen bzw. Unterforderungen integriert. Nicht immer ist der innere Raum maßgebend, nicht immer sind die äußeren Strukturen allein entscheidend. Innere Wünsche lassen sich mit äußerer Realität vollständig oder teilweise realisieren. Die äußere Realität des Kindes und die äußeren Strukturen sollen dem Kind Orientierung geben, es begren­zen oder sich ausdehnen lassen, je nach Vorgegebenheiten im äußeren Raum bzw. Möglichkeiten bei anderen Beziehungspersonen mit ihren Wünschen, Gefühlen Ge­danken und Handlungen. Hier lässt sich der Spielraum zwischen dem inneren Prozess des Kindes und der äußeren Struktur definieren, wenn innere und äußere Realität etwas Gemeinsames entwickeln. Gelingt diese Begegnung im Sinne des Findens eines geeigneten Spielraums zur Reifung des Kindes, dann kann man davon ausge­hen, dass das Kind und sein soziales System eine Basis gefunden haben, auf der Wachstum geschehen kann. Diese Auseinandersetzungen und diese Basis sind nichts Statisches, sondern verändern sich ständig in verschiedenen Lebensphasen, in bestimmten Krisen und bei unterschiedlichen Gegebenheiten, aber dieses System ist in der Lage, immer wieder eine Balance und eine Orientierung, also neue Spiel­räume, zu finden. Anders ist es, wenn der Beziehungsraum oder Spielraum zwischen innerer und äußerer Realität keine Wachstumsgrundlage findet und somit das System mit Symptomen und Störungen in der Entwicklung des Kindes reagiert. Hier kann ich von Störungsräumen sprechen.

Störungsräume sind meist statisch und starr, sie bieten keine Grundlage für ausrei­chende Dynamik und Flexibilität in der Beziehung oder sind zu chaotisch, um eine konstante, zuverlässige Grundlage und somit Orientierung zuzulassen.

Wenn Kinder zur Frage der Therapie vorgestellt werden, finden wir die einen zurück­haltend, so dass sie mehr Ermutigung und Motivation brauchen, um aus sich in den Kontaktraum einzutreten, die anderen kommen sofort herein, bewegen sich überall, gehen zu den Spielsachen hin, treten mit ihren Straßenschuhen auf alles und spielen so reizorientiert, dass sie die anwesenden Personen kaum wahrnehmen. Manche zie­hen sich in eine Ecke zurück und spielen für sich allein, wollen auf kein Angebot ein­gehen oder sind in sich verschlossen und registrieren kaum Reize von außen. Andere wiederum gehen sehr freudig auf Angebote ein und lassen sich schnell und einfach motivieren.

Im Kontaktraum haben wir mit Material, mit unserem Körper, mit der Sprache, mit un­serem Verhalten zu tun. In diesem Raum schwingen Emotionen, Ideen und Phanta­sien. Wir reagieren auf bestimmte Dinge. Wir reagieren auf bestimmte Reaktionen. Wir induzieren, indem wir fordern oder herausfordern. Wir sehen, wie das Kind funk­tional mit Material umgeht, wie es mit uns und unseren Angeboten umgeht und wie es unsere Forderungen und Angebote annimmt oder abwehrt. Das Kind drückt sich aus und projiziert seine Ideen, Phantasien und Gefühle in diesem Zwischenraum in Form von Handlungen und Gestaltungen.

Der Raum, in dem Begegnungen stattfinden, ist vorgeprägt durch die Gestaltung in der Familie und anderen Beziehungen. Diese Prägung strukturiert den therapeuti­schen Spielraum in seiner Quantität (Weite – Enge, Toleranz – Intoleranz …) und Qualität (Emotionen, Gedanken/Ideen, Phantasien).

In der Begegnung mit dem Kind ist es wichtig, diese Struktur zu erkunden und zu er­fahren.

Wachstum des Kindes und sein System

Wir merken, daß das Wachstum des Kindes einmal davon abhängt, wie die neuen Informationen und Erfahrungen individuell zu seiner Struktur und Entwicklung passen, aber auch inwieweit diese im familiensystemischen Kontext integrierbar sind. Zu der kindlichen Struktur gehören seine sensomotorischen und kognitiven Fähigkeiten und Grenzen und seine Persönlichkeitsentwicklung. Diese wiederum ist immer im Kontext des Familiensystems zu sehen, denn wir leben mit enormen Erwartungen, Hoffnung, Wünschen und Phantasien der Eltern, die ihrerseits ihre Wurzeln im intergenerationalen Bereich haben. Wir können das Kind nicht einfach fördern, weil wir denken, dass dies gut ist, wir können auch nicht die bewussten und unbewussten Wünsche und Erwartungen des Familiensystems ignorieren oder wir können nicht denken, dass Mittei­lungen den Eltern gegenüber diese Wünsche und Phantasien korrigieren. Die Hand­lungen der Eltern geben uns Hinweise über ihre unbewusste Sprache und Wahrneh­mung, die auf einem emotionalen Potential beruhen. Wenn wir gegenüber der Familie genauso handeln wie gegenüber dem Kind, dann ist es wichtig, „sie genau da abzu­holen, wo sie stehen“, dort, wo sie mit ihren Ängsten und Phantasien stehen, dort, wo sie mit den Botschaften aus den eigenen Ursprungsfamilien konfrontiert sind und sich schwer lösen können.

Der therapeutische Spielraum

Im therapeutischen Spielraum, der sich neu konstituiert, haben wir es mit Anteilen unterschiedlicher und gemeinsamer Strukturen zu tun. Das Kind stammt aus der Realität seines Familiensystems. In diesem Familienkontext sind Werte, Vorstellun­gen, Wünsche, Regeln… zu finden, die teilweise über Generationen ihren eigenen Raum in der familiären Realität geschaffen haben. Auch der Therapeut hat neben der eigenen Geschichte und neben persönlichen Anteilen in seiner Familie Regeln und Bedingungen aus dem System Institution, in dem er arbeitet und Erfahrungen aus der therapeutischen Arbeit mit anderen Kindern und Eltern. Der Therapeut hat einen be­stimmten Rahmen anzubieten, den Therapieraum und die vereinbarte Zeit. Der The­rapeut hat inhaltlich Konzepte, z.B. aus der Neurophysiologie, Psychologie, Psycho­motorik und Familiendynamik. Auch das Kind kommt aus einem bestimmten Rahmen, aus bestimmten Wohnverhältnissen, aus einem bestimmten sozialen Status. Prozesshaft ist das Kind in eine bestimmte Beziehungsstruktur eingefügt. Bestimmte Regeln, Erwartungen und Möglichkeiten sind ihm geläufig. Inhaltlich hat das Kind funktional Ressourcen, wie Fähigkeiten in der Sprache, in der Motorik, in der Kognition, und emotionale Ressourcen aus bestimmten Beziehungserfahrungen. Es ist in bestimm­ten Situationen zurückhaltend, in anderen fröhlich, ängstlich oder zu aktiv. Insofern bringt das Kind in den therapeutischen Spielraum Lebenskonzepte, Beziehungskon­zepte und funktionale Konzepte ein.

In der Begegnung beider Herkunftssysteme lässt sich dann fragen: Welche Konzepte hat der Therapeut und welche die Familie des Kindes und welche Einschränkungen und Fähigkeiten hat das Kind und der Therapeut?

Der therapeutische Spielraum berücksichtigt

· den Rahmen, d.h. wie, wo und wann die Therapie stattfindet, welche
Rituale und Regeln zu befolgen sind,

· den Prozess, in dem registriert wird, welche Art der Begegnung möglich
ist, wie sich Therapeut und Kind begegnen können, welche Ängste,
Erwartungen und Wünsche zu vermuten sind und

· den Inhalt, in dem Lebenskonzepte, Geschichte des Kindes und seine
jetzige Realität ihre Auswirkungen in diesem Kontext haben.

In diesem Spielraum gibt es konstante und variable Kriterien. Je mehr der Therapeut voraussetzt, umso weniger erlebt er den gemeinsamen Raum. Je flexibler er ist in der Beobachtung, im Zuhören und im Handeln, umso eher hat er die Möglichkeit, sich auf den inneren Raum des Kindes einzustel­len.

Es geht in diesem Spielraum um einen Austausch und um einen Beziehungsraum, der dem Kind Halt gibt und es nicht in eine Leere führt oder mit Reizen und Inhalten über­flutet, die kaum Raum für Begegnung lassen. Räume, die leben und in denen Wachstum entstehen kann, brauchen Austausch, Sensibilität für Quantität und Quali­tät der Reize und Sensibilität für die eigene Zurücknahme und das eigene Anbieten, damit der Raum wachstumsfähig wird. Stagnation in der kindlichen Entwicklung lässt in der Regel einen leeren Raum, der häufig mit Überaktivität gefüllt wird. Funktionen wie Hyperaktivität drücken aus, dass es an der Beziehung mangelt oder etwas unklar ist. Sich nur auf der funktionalen Ebene zu orientieren, macht den therapeutischen Spiel­raum ärmer, denn Funktionen beruhen auf Beziehungen, zumindest stehen sie eng mit ihnen in Verbindung. Die symptomatische Ebene drückt insofern etwas aus dem Funktionskreis eines Systems und der darunter liegenden Schichten im emotionalen und beziehungsdynamischen Bereich aus. Wenn die Spielräume leben und Beziehungsräume wachsen (dynamischer und inhaltreicher), lassen sie unterschiedliche Funktionalität, emotionale Qualitäten und unterschiedliche Beziehungen zu. Hierzu gehören die Polaritäten Enge – Weite, Klarheit – Verschwommenheit und Flexibilität – Konstanz. Beziehungsdynamische Ausdrucksformen können Ähnlichkeiten und Paral­lelen zu bestehenden und registrierten Funktionen im kindlichen Verhalten haben.

Im therapeutischen Spielraum geht es also um Lebenskonzepte, Beziehungskonzepte und funktionale Konzepte. Man spielt miteinander, man spricht miteinander, man ent­wickelt Gemeinsamkeiten über Material, über sich selbst. Der Therapeut versucht in diesen Kontakterfahrungen eigene Konzepte und Erfahrungen zu integrieren, das Kind versucht, ersehnten Beziehungen und Verhaltensweisen Raum zu geben, aber auch schwierige Beziehungen und Verhaltensweisen wieder aufleben zu lassen. So­wohl die Eltern, als auch das Kind versuchen, bestimmte Vorstellungen, Vorbehalte und Wünsche direkt oder indirekt zu demonstrieren. Diese Spielräume entwickeln sich mit dem Material, mit den Bewegungen, mit der Sprache, mit dem Verhalten und den Reaktionen. Hier entstehen Berührungspunkte mit einem Hintergrund aus früheren Erfahrungen und Gefühlen. Im Funktionsraum besteht die Möglichkeit, über Material, Spiele oder Sprache gemeinsame Funktionen zu entwickeln. In diesem Funktions­raum finden sich immer mehr Nischen für Emotionen und Symbolik.

Der Therapeut ist bemüht zu erfahren, welche Fähigkeiten und Begrenzungen das Kind im gemeinsamen Spiel hat. Das Kind bekommt den Spielraum, den es braucht, um sich auszudrücken oder das Kind bekommt eine Begrenzung, damit es sich nicht im funktionalen Spiel verliert. Das Spiel beinhaltet Führen und Geführtwerden, Ge­währen und Begrenzen, Fordern und Gefordertwerden. Insofern gehört es dazu, so­wohl die objektiven als auch die subjektiven Erfahrungen zu integrieren. Vorwiegend funktionale Spiele und Betrachtungsweisen füllen den Raum mit Material und hinter­lassen eine emotionale Leere. In der Phase der Begegnung ist es erforderlich, das Kind kennenzulernen, auch die Botschaften aus dem Familienkontext zu verstehen. Der Spielraum ist nur auf der einen Seite gefüllt mit den individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten des Kindes, auf der anderen Seite steht hinter dem gesamten Verhalten das Konzept der Familie. Das Kind verschleiert durch Rückzug, regressives oder aggressives Verhalten, Hyperaktivität und Sprachverweigerung sein Können und seine Möglichkeiten. Die Eltern verschleiern durch die zu hohen Erwartungen und Vorstellungen die Realität des Kindes mit ihren eigenen Phantasien vom gewünschten und nicht realen Kind. Der Therapeut ist hier gefragt, seine eigene Wahrnehmung und seine Möglichkeiten zu zeigen, aber auch die Fähigkeiten und Einschränkungen des Familiensystems, die teilweise durch das kindliche Verhalten demonstriert werden, wahrzunehmen. Es lassen sich insofern Gemeinsamkeiten entdecken und entwickeln, die Spielräume im funktionalen und emotionalen Bereich zulassen können. Im ge­meinsamen Spielraum kann sich im Laufe des Prozesses Kreatives entwickeln. Es entwickelt sich Raum für Passivität und Aktivität, in dem ein Teil nur aktiv sein kann, der andere passiv ist und umgekehrt. Anspannung und Anstrengung können entste­hen, wenn auf der anderen Seite eine Entspannung vorhanden ist. Eindringen in den Raum, sich zeigen, sich in den Mittelpunkt stellen, sich ausdrücken ist auch möglich, wenn ein Rückzug auf der anderen Seite möglich ist. Hier geht es sowohl auf der Seite des Therapeuten als auch der Eltern darum, nicht nur Angebote zu machen, sondern den Raum freizumachen, damit ihn das Kind füllen kann. In dieser Phase treten nicht selten Blockierungen auf, da Therapeuten von eigenen Erfolgen so be­geistert sind, so weiter machen und ihre eigenen Grenzen nicht wahrnehmen. Die gemeinsamen Spielräume wachsen bis das Kind in den realen Funktionen und Bezie­hungen ausreichende Möglichkeiten findet und die eigene Kreativität entdeckt.

Im therapeutischen Spielraum haben wir die Möglichkeit, einen entwicklungsfördern­den Raum für das Kind und sein System zu schaffen. Wir versuchen auch, den realen Raum mit Material, Angeboten und Anforderungen so zu gestalten, dass das Kind Kontakt zu uns und zum Material bekommt, sich nicht zurückzieht sondern sich Schritt für Schritt öffnet. Das erreichen wir, wenn wir das Kind nicht überfordern, nicht sensomotorisch, nicht psychisch und nicht kognitiv. Sobald wir verstanden haben, warum ein Kind abwehrt und wir unseren Raum und unsere Beziehungen so gestalten, dass das Kind weniger Angst bekommt und mit uns etwas macht oder es duldet, haben wir den ersten Schritt getan, Erfahrungen, die entstehen, auf einer emotionalen und be­ziehungsdynamischen Basis zu entwickeln, so dass sie einverleibt werden. Sobald diese Basis stimmt, merken wir, dass die Kinder das Gelernte nicht mechanisch in sich aufnehmen und mechanisch wiederholen oder zeigen, wenn man sie auffordert, son­dern sie sind kreativ und fähig, diese Erfahrungen zu verändern, zu modifizieren oder Neues zu entwickeln.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass ein schreiendes Kind mit dem Schreien auf­hört, wenn der Spielraum so gestaltet wird, dass er für seine Bedürfnisse adäquat ist und die Bedrohung aus dem Außenraum reduziert wird. Hier handelt es sich um Grundbedürfnisse, um Reizreduzierung bzw. -neugestaltung, um Körperlagen und um Kontaktmöglichkeiten. Auch die Kontaktqualität spielt eine große Rolle, wie die Aus­wahl des sensorischen Systems bzw. sensorischen Musters. Funktional gesehen geht es um die adäquaten Angebote auf visueller, auditiver, kinästhetischer und vestibulärer Basis mit ihren vielfältigen Integrationsmöglichkeiten. Noch wichtiger ist die Aufmerksamkeit, Aufrichtigkeit und Echtheit dieser Kontaktangebote. H. Maturana unterstreicht die Zwecklosigkeit dieser Kontakte, d.h. diese Angebote und Interaktio­nen geschehen im Hier und Jetzt und sind nicht auf die Zukunft gerichtet, auch nicht an einen Zweck gebunden.

In der Beurteilung, welches Medium oder welcher Spielraum und welche Räume über­haupt für das Kind geeignet sind, ist es notwendig, selbst kreativ und variabel zu sein. Wichtig ist es zu wissen, was das Kind braucht, um sich sicher zu fühlen, um von sich etwas herzugeben oder von uns etwas aufzunehmen. Wir versuchen das geeignete Medium herauszufinden, um Neues zu lernen, um Defizite auszugleichen, um neue Experimente zu machen. Hierzu gehören natürlich Material, Konstellation der Sitzun­gen, Art der Angebote, Anwesenheit oder Nichtanwesenheit der Eltern, Therapie in Einzelsituation oder in Gruppe, in einer kleinen, mittelgroßen, großen Gruppe oder Mutter-Kind-Gruppe. Dieser Rahmen ist wichtig, um Erfahrungen an das Kind zu brin­gen, die es braucht, um weiterzukommen. Wir haben behandelte Kinder, die Thera­pieangebote bekamen, innerhalb derer sie eine Grenze erreicht haben, die keine Fortschritte mehr zuließen. Diese Kinder wurden anderenorts als unauffällig entlassen, wurden aber auffällig, als man sie mit anderen veränderten Konstellationen konfron­tiert hat, sie fielen wieder in ihre alten Verhaltensmuster zurück.

Das erleben wir dann, wenn der Blick zur Variabilität verloren geht oder wenn Varia­bilität sich auf den funktionalen Bereich beschränkt.

Betrachten wir noch einmal die Reifungsebene des Kindes und den Therapieprozess, dann stellen wir fest, dass es wichtig ist zu wissen, wo das Kind steht, welche Bah­nungs- und Orientierungshilfen erforderlich sind. Wir bieten Material an, konstruieren Räume, erfinden Schwierigkeiten und schaffen somit realitätsähnliche Situationen, in denen das Kind wachsen kann. Neben oder mit dem funktionalen Raum ist der emo­tionale Raum wichtig, der Beziehung, Ausdruck, Empfindungen, Phantasien .. beinhal­tet und in dieser Therapie direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst wirksam bleibt. Ignorieren wir ihn, indem wir funktionsorientiert arbeiten, riskieren wir eine Spaltung, die ihre Folgen haben kann. Der emotionale Raum ist ein wichtiger Kontext für kindli­che Funktionen. Diese Funktionen bleiben leer, wenn sie nicht emotional integriert werden, sie machen Sinn, wenn sie als Ausdruck, Beziehung, Interaktion, Kontakte … Raum bekommen. Bei Kindern erleben wir oft, dass Therapien an ihnen vorbeigehen, die Übungszentrierung wird so perfektioniert und der emotionale Raum so vernach­lässigt, dass Funktionen wie im leeren Raum und sinnlos erscheinen. Diese Kinder entwickeln ein hyperaktives Verhalten, ein Verhalten, das uns sinnlos und leer er­scheint, aber symbolisch die Sinnlosigkeit ausdrückt, die ihre Bedeutung im Erleben des Kindes hat. Wir sehen, dass in einem Therapieprozess eine Integration funktionaler und emotionaler Anteile wichtig ist. Auch das Familiensystem „meldet“ sich meist indi­rekt bzw. unbewusst, über Stagnation der Therapie, fehlende Weiterentwicklung des Kindes, Verhalten des Kindes und Unregelmäßigkeit in der Inanspruchnahme von Terminen.

Uns interessiert an dieser Stelle, wie die Familie die Auffälligkeit des Kindes sieht, welche Gefühle, Gedanken und Phantasien sie entwickelt hat, welche Auswirkungen diese Auffälligkeiten auf die Familienorganisation haben.

Wie lassen sich therapeutische Räume, die helfen, realisieren?

Ich möchte auf drei Punkte eingehen:

1. Beziehung Therapeut – Kind:

Damit aus „Störungsräumen“ „Wachstumsräume“ entstehen können, ist es not­wendig, dass die Therapie nicht eine Störung dadurch versucht zu beheben, dass sie eine neue Störung induziert. In einer Therapie steht der Therapeut häufig vor einer Gefahr, die eigenen Grenzen oder die der Familie mit in die Therapie „hinüberzuretten“, indem er die Integrationsfähigkeit des Kindes und seiner Familie über- oder unterschätzt und somit führt die Therapie wieder in eine Sackgasse. Funktionen sind, unabhängig von ihrer Ursache, ein Teil des kindlichen Ausdrucks und haben emotionalen, beziehungsdynamischen und symbolischen Bezug. Es geht nicht um Üben von Fähigkeiten, sondern um wohin, unter welchem „Preis“ und mit welchen Konsequenzen und Auswirkungen für die Emotionalität der Beziehun­gen des Kindes und der Familie. Eine Spaltung zwischen Funktionen und Emotio­nalität kann nur künstlich sein. Eine Therapie, die helfen soll, soll den emotionalen Raum integrieren. Diese Auffälligkeiten in der Bewegung, im Verhalten, in der Sprache… sind Bestandteile der Person Kind. Sie haben ihre Symbolik und ihren emotionalen Bezug. Sie sind in jedem System lebendig, sie wirken, auch wenn der Therapeut versucht, es zu verhindern, sie sind wie ein Schatten, den man nicht durch Wegschauen verhindern kann. Alles, was im Therapiesystem geschieht, ist von Bedeutung. Hierzu gehören fehlende Entwicklungsfortschritte, Verweigerungs­verhalten, störendes Verhalten, Angstsymptomatik. Der Therapeut ist in diesem Prozess ein wichtiger Beziehungspartner zum Kind, der diese Beziehung nicht funk­tional missbrauchen soll. Missbrauchen insofern, als das Herauslösen von Funktio­nen das Kind in eine emotionale Leere und einen Konflikt führen und den Thera­peuten in seinem funktionalen Agieren unterstützen kann.

2. Beziehung Therapeut – Eltern:

Der Therapeut ist hier bemüht, die therapeutischen Inhalte durchsichtig zu machen. Er hilft der Familie in der Entwicklung der Wahrnehmung ihres Kindes und in der Verarbeitung ihrer Gefühle. In diesem Zwischenraum zwischen Therapeuten und Eltern sind Räume für Unterstützung, Konfrontationen und Herausforderungen. In diesem Prozess darf man die Wirksamkeit der Familiendynamik nicht unterschätzen. Funktionen der Familie in ihren Handlungen und ihre Wahrnehmungsstruktur sind wichtige Hinweise, die genau wahrgenommen werden sollen, damit sie in den Therapieprozess integriert werden. Hierzu gehört, wie die Eltern die Probleme und Ent­wicklung ihres Kindes wahrnehmen und einschätzen, welche emotionalen Hinter­gründe begleiten die Wahrnehmung und Einschätzung, wie sie mitmachen, sich im Prozess verändern oder nicht verändern und ob sie weiter mit einer Paradoxie le­ben, indem sie nicht wahrnehmen oder in die Therapie kommen oder umgekehrt, indem sie die Probleme überschätzen. Diese Elemente der Wahrnehmung, Ein­schätzung und Emotionalität des Familiensystems sind für die Therapie wichtig.

3. Raum des Therapeuten:

Der Therapeut braucht ebenfalls einen Bereich, in dem er Unterstützung, aber auch Konfrontation erlebt. Im Team hat er die Möglichkeit zu reflektieren, zu kämpfen und Unterstützung zu bekommen. Der Therapeut hat die Möglichkeit, seine funktio­nalen und emotionalen Räume im Team zu reflektieren, zu variieren und neue zu fin­den. Seine Handlungen und Mitteilungen sind mit dem gleichen Maßstab zu mes­sen, wie er kindliche Verhaltensweisen im Familiensystem kontexualisiert, d.h. wie der Therapeut seine Grenzen und Probleme schildert, wie seine Beziehung und Funktionalität und seine Emotionalität im Therapieprozess strukturiert sind, sind in solcher Teambegleitung hilfreich zu erfahren.

Therapeutische Räume können in ihrer Neugestaltung die Wiedergewinnung von Fle­xi­bilität und Veränderbarkeiten ermöglichen, die wiederum die Entwicklung des Kin­des unterstützen und auch Kon­zepte aus der Neurophysiologie realisieren lassen.

Kinder brauchen Spielräume, Räume, in denen sie leben, fühlen, denken und phanta­sieren, Beziehungs­räume, in denen Beziehungen sowohl Orientie­rung als auch Fle­xibilität erlauben und funktionale Räume bzw. Übungsräume, in denen sie experimen­tieren können. Therapeutische Räume werden Wachstumsräume, wenn sie lebendig, vielfältig und sinnhaft werden. Spielräume sind Räume, in denen das Kind seine Be­ziehungen in der objektiven und subjektiven Welt gestaltet. Sie können zu Wachs­tumsräumen werden, in denen Konstanz und Varia­bilität Platz haben, sich Bezie­hungen auf zuverlässiger Basis gründen und Verände­rungen Raum bekommen. Durch den Einbezug des Familiensystems können wir ei­nen wichtigen Teil in der kindlichen Entwicklung integrieren. Durch die Einbettung des Therapeuten im Team bekommt er die nötige Unterstützung, um die Störungsdynamik zu überwinden und Kreativität im therapeutischen Prozess zu ermöglichen.

Zusammenfassung:

Anhand des Metaphers „Spielräume“ wird der Prozess des kindlichen Wachstums und der Störung reflektiert. Der Unterschied zwischen Störungs- und Wachstumsräumen liegt meiner Meinung nach darin, wie die Integration von statischen (Regeln, Gewohn­heiten und weitere klare Strukturen im Ausdruck und in Beziehung) und variablen dy­namischen Anteilen (Erweitern, Ausdehnen und Verlassen von den bekannten Struk­turen im Ausdruck und in Beziehungen) beim Kind gelingt oder nicht gelingt.

Therapeutische Räume sollen dem Kind aus einer gewissen Starrheit (Überwiegen der statischen Anteile) bzw. dem Chaos (Überwiegen der dynamischen Anteile) her­auskommen helfen und dem Kind in der neuen Beziehung neue Gestaltungsmöglich­keiten erleichtern. Hierzu gehört auch die Integration des Familiensystems.

Literatur: beim Verfasser anzufordern

Dr. med. Saadi Jawad
Sozialpädiatrisches Zentrum
Bahnhofstr.21-23
96450 Coburg