Systemische Therapie in der Behandlung von Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten

Auszug aus der Veröffentlichung in „Frühförderung interdisziplinär“ 20.Jg.,
S. 20-33 (2001),
Ernst Reinhard Verlag München Basel,
Dr. Saadi Jawad.


1    Einleitung

Die therapeutische Arbeit mit entwicklungsauffälligen und behinderten Kindern orientiert sich in der Regel an den funktionellen Mängeln beim Kind und ihrem Ausgleich. Ihr Erfolg wird heute noch an der Kompensationsfähigkeit der Defizite gemessen. Das Hauptanliegen der Eltern ist der Ausgleich dieser Entwicklungsdefizite ihres Kindes und somit eine Normalisierung oder Besserung der Entwicklung, obwohl heute viel von Ressourcen- anstatt Defizitorientierung und von Ganzheitlichkeit gesprochen wird.

Die therapeutischen und Förderungskonzepte mit entwicklungsauffälligen Kindern entwickelten sich aus zwei Bereichen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, einmal aus dem pädagogischen Bereich heraus als pädagogische Frühförderung und einmal aus dem medizinischen Bereich, der Pädiatrie heraus mit dem Schwerpunkt neurophysiologische Verfahren wie der Krankengymnastik. Später kamen noch Logopädie und Ergotherapie dazu. Diese Therapieformen entwickelten sich im Laufe der Jahre weg von der Übungszentrierung hin zur Integration von Methoden aus der Psychotherapie, von der Forderung eines schnellen und frühen Beginns der Therapie bis hin zu der Form, in der der Therapieprozess in den Mittelpunkt gestellt wird. Auch die Verantwortung der Eltern und der Beziehungsaspekt spielen in diesen Therapien eine große Rolle. Im Prozess der Elternarbeit setzen sich systemische Arbeitsweisen durch, bei denen mehr Wert auf die Herausarbeitung und Entwicklung familieneigener Ressourcen gelegt wird als auf die Herausarbeitung von Problemen, die möglicherweise als mitverantwortlich für die kindliche Entwicklungsstörung angesehen werden.

Systemische Therapie, insbesondere Familientherapie, wird in Bezug auf Frühbehandlung/ – förderung entwicklungsauffälliger Kinder auch wieder in Frage gestellt, da sie als Gegenkonzept zu individuell orientierten Therapieformen gesehen wird, z.B. durch eine funktionale Therapie wie Physiotherapie und Ergotherapie oder eine heilpädagogische Förderung. Dabei wird jedoch ihre integrative Fähigkeit zwischen der Berücksichtigung individueller Bedürfnisse und den Bedürfnissen der Familie bzw. individuellen Möglichkeiten und Grenzen und denen des Familiensystems weniger beachtet. Wenn man Störungen in der Entwicklung eines Kindes in ihrer Kausalität ( entweder hirnorganisch oder psychosozial ) betrachten will, wird man nicht nachvollziehen können, dass man mit den systemischen Gedanken nicht die Ursachen einer Störung erklären will, sondern das bisherige Konzept erweitern will. Die systemische Perspektive kann dazu beitragen, Prozesse der Störung und Prozesse des Wachstums beim Kind zu verstehen, insbesondere in ihrer komplexen Verflechtung bzw. ihrer Vernetzungen zwischen der Dynamik der Entwicklungsstörung und der „normalen“ Beziehungsdynamik wie z.B. der Familiendynamik. Diese Verflechtung bezieht auch die verschiedenen Systemebenen ein ( individuelle Ebene des Kindes, Ebene der Familie,…), in denen die Entwicklungsstörung stattfindet.

Wir halten die Integration systemischer Konzepte in die bisherigen Behandlungskonzepte für eine Bereicherung, obwohl wir diese Integration der bekannten Methoden aus der Frühförderung und Entwicklungsneurologie mit den systemischen Konzepten nicht als unproblematisch betrachten. Sie erfordert eine tragende Basis im zusammenarbeitenden Team und eine Umstellung der Betrachtung von Problemen und Störungen. Eine mögliche Schwierigkeit besteht, wenn die Eltern bei einer „klassischen“ Entwicklungsstörung ihres Kindes z.B. bei einer Sprachstörung den Sinn der Einbeziehung der Familie nicht begreifen, bzw. nicht nachvollziehen können. Die Eltern und zum Teil sogar die Fachleute fühlen sich unter Umständen mißverstanden bzw. in ihrer Toleranz überfordert, wenn sie den Eindruck gewinnen, man wolle z.B. die Sprachstörung ihres Kindes mit den Mitteln der Familientherapie behandeln. Für die Eltern könnte es zu einer Belastung werden, falls durch die Familientherapie eine Familienstörung impliziert würde.

Die Integration systemischer Konzepte könnte uns wie unten ausgeführt helfen, Systeme so zu verstehen, dass unsere Hilfe für die Fähigkeiten und Grenzen des Systems (z.B. des Familiensystems) passt und nicht systemfremd wird. Durch die systemische Betrachtung wird uns klar, aus welchem Grund manche Therapieprozesse stagnieren und erfolglos bleiben und andere zum Erfolg der Therapie führen.

Die Übernahme einer funktionalen Therapie bei einem Kind stellt uns vor das Problem, einen bestimmten Teil des Therapieprozesses (funktionalen Teil) anzugehen und einen wesentlichen Teil ( Dynamik) unberücksichtigt zu lassen. So stehen hinter dem Wunsch der Eltern, die Entwicklungsauffälligkeit ihrer Kinder zu beheben, eine Vielzahl an Problemen, die kaum zur Sprache kommen. Dennoch sind sie in einem Therapieprozess so wirksam, dass der Therapieverlauf ins Stocken zu geraten droht und keine Fortschritte in der Entwicklung des Kindes verzeichnet werden. Die uneingestandenen Probleme der Familie fließen jedoch nicht in den Auftrag an den Therapeuten ein, denn das Kind wird vorgestellt mit dem Wunsch, Funktionsrückstände zu beheben, auch wenn diese Probleme das Therapiesystem ( bestehend aus Therapeutin, Elternteil meist der Mutter, Kind ) involvieren.

2    Funktionen und Systeme

Unabhängig von der Kausalität einer Entwicklungsauffälligkeit lassen sich funktionelle Fähigkeiten im Kindesalter wie in der Sensomotorik nicht einfach auf den neurophysiologischen Bereich reduzieren.

Funktionen sind genetisch determiniert, bedürfen für ihre Reifung und Differenzierung Entwicklungsräume sowohl im Kind selbst, als auch in den Beziehungen des Kindes zu seiner Umwelt. Motorische oder sprachliche Entwicklung beim Kind lassen sich erst in den existierenden Beziehungen verstehen. Ein handelndes Kind ( z.B. motorisch oder sprachlich) kann diese Fähigkeiten weiter entwickeln, wenn dafür ein Beziehungsraum geschaffen wird, in dem die Funktion eine Bedeutung und einen Sinn bekommt. Umgekehrt braucht ein entwicklungsauffälliges Kind, das seine Grenzen oder Einschränkungen überwinden oder verbessern will, ein System, welches flexibel und dynamisch genug ist, dass das Kind in einem Förderungssystem den adäquaten Raum für die Entstehung dieser Fähigkeiten bzw. Funktionen findet.

Ein System entwickelt sich nach einer gewissen Grundstruktur, es passt sich dann je nach Belastung, Einschränkung und Ressourcen an. Veränderungen wie z.B. Krankheiten oder Behinderungen veranlassen das System, sich in eine für das System adäquate Richtung zu entwickeln, um ein neues Gleichgewicht zu finden, nachdem das alte Gleichgewicht durch die Entwicklungsstörung gestört wurde.

Im Falle von funktionellen Störungen reagiert das Familiensystem in einer Form, welche es ermöglicht, mit Belastungen auf der ihr eigenen Art zurecht zu kommen. Zu stark bedrohliche Belastungen werden abgewehrt, oder das System passt sich in der Weise an, dass die Bedrohung „neutralisiert“ bzw. eine Kompensation gesucht wird.

Um eine Entwicklungsstörung eines Kindes zu kompensieren und ein neues Gleichgewicht zu finden, kann ein Familiensystem je nach Struktur auf verschieden Ebenen unterschiedlich reagieren:

· auf der Wahrnehmungsebene

Das Familiensystem nimmt die funktionelle Entwicklung des Kindes und ihre Abweichung nicht nur verzerrt oder selektiert wahr, z.B. stellen die Eltern ihr Kind mit der Aussage vor, daß sie selbst nicht wissen, warum ihr Arzt sie mit ihrem Kind zur Untersuchung schickt, sie selbst registrieren keine Auffälligkeit und schätzen die Entwicklung ihres Kindes als normal ein.

· auf der Gefühlsebene

Gefühle, Empfindungen und Stimmungen in Zusammenhang mit der Entwicklungsstörung oder Behinderung werden vom Familiensystem verleugnet oder verändert. Die Eltern registrieren zwar die Auffälligkeit bei ihrem Kind, lassen aber entweder keine entsprechenden Emotionen wie Betroffenheit zu bzw. bleiben also distanziert oder entwickeln inadäquate Aktivitäten zur Beseitigung der Auffälligkeit.

· auf der kognitiven Ebene

Eigene Wahrnehmungen oder Wahrnehmung anderer hinsichtlich der Entwicklungsstörung oder Behinderung werden umdefiniert, so dass für eine bestimmte Auffälligkeit passende und weniger belastende Erklärungen gefunden werden oder sie suchen in ihrer eigenen Biographie nach Ähnlichkeiten, die sich dann als normal zeigten.

Häufig wird beobachtet, dass es auch von der Art der Behinderung oder der Entwicklungsstörung abhängt, wie die Reaktion der Eltern oder wie die Struktur der elterlichen Wahrnehmung hinsichtlich der Entwicklungsstörung sein wird. Bei einer sichtbaren Behinderung , wie einer Körperbehinderung ergeben sich wenig Spielräume für eine Umdeutungen bzw. Undefinitionen der Entwicklungsstörung durch die Eltern, so dass unmittelbar der emotionale Anteil des Familiensystems konfrontiert wird. Bei sog. „unsichtbaren“ Entwicklungsstörungen wie bei Wahrnehmungsstörung sind Umdeutungen und Umdefinitionen Tür und Tor geöffnet, so haben wir oft bei einer kindlichen Wahrnehmungsstörung mit einer Wahrnehmungsstörung des Familiensystem zu rechnen.

So erleben wir Eltern, die lange die Therapie in Anspruch, aber noch keine ausreichende reale Wahrnehmung darüber entwickeln, was ihre Kinder haben, warum sie mit ihrem Kind zum Therapeuten kommen oder wo ihre Kinder in der Entwicklung stehen. Wir erleben auch Eltern, die schon in der Diagnostik eine Wahrnehmung über das Problem ihres Kindes entwickeln. Andere Eltern sind in der Lage, im Laufe des Therapieprozesses, eine reale Wahrnehmung ihres Kindes zu entwickeln, andere wiederum zeigen sich im Prozess der Wahrnehmung der Entwicklung ihres Kindes starr und sind auch nach langer Begleitung nicht in der Lage, den Stand und die Realität ihres Kindes wahrzunehmen. Hier sprechen wir von einer rigiden Struktur der Wahrnehmung im Familiensystem. Auf der anderen Seite gibt Familien, deren Wahrnehmungsstruktur eher diffus ( chaotisch) ist. Mit oder ohne Entwicklungsauffälligkeit ihres Kindes und manchmal unabhängig von der Schwere der Entwicklungsbeeinträchtigung entwickelt das Familiensystem ein Chaos der Wahrnehmung und finden alles mögliche an Auffälligkeiten an ihrem Kind.

Die zweite Achse, die für die Beurteilung des Familienprozesses wichtig ist, ist neben der sensorischen Struktur ( Problemwahrnehmung bzw. Wahrnehmung der Entwicklungsauffälligkeit) die emotionale Struktur, in der das elterliche System versucht, durch Blockierung die damit verbundenen Ängste zu kontrollieren, wahrscheinlich um handlungsfähig zu bleiben.

Die Entwicklungsauffälligkeit eines Kindes stellt eine große Belastung für eine Familie dar. Diese Belastung würde das Familiensystem überfordern, wenn sie sich von der Flut der Befürchtungen, Ängste und Zukunftsbilder nicht schützt. Entweder schützen sie sich durch eine Verzerrung ihrer Wahrnehmung, wie ich schon beschrieben habe oder gerade, wenn es sich um eine Entwicklungsstörung oder Behinderung handelt, die sichtbar ist, reagieren Eltern nicht mit der Abwehr der Wahrnehmung, sondern emotional, indem sie unsicher, ängstlich, aggressiv reagieren, oder resignieren, andere isolieren sich ……. Eine andere Art mit übermäßigen Belastungen umzugehen, ist die „kontraphobische“, wenn Eltern schon zu Beginn eines Prozesses die Entwicklungsstörung oder Behinderung ungewöhnlich direkt angehen und sich somit durch „den Sprung ins kalte Wasser“ schützen. Das Dramatisieren der Entwicklungsbeeinträchtigung in Verbindung mit massiven Ängsten kann Ausdruck solcher chaotischen Verarbeitung sein.

Eine weitere besondere Form wäre die Begegnung mit den Familien von Kindern mit Krankheiten mit letalem Ausgang wie bei der Muskeldystrophie. Diese Familien verlassen sogar die emotionalen Ebene und bewegen sich im existentiellen Bereich. Sie vermeiden häufig die emotionale Auseinandersetzung und bewegen sich auf der existentiellen Ebene, denn es geht wirklich um Leben oder Tod. Diese Begegnungen verlaufen nicht selten „ohne große Worte“ ab.

So wie wir sehen, sind das Erstarren oder das Chaos im emotionalen Bereich mögliche Reaktionen, in denen das Familiensystem z.B. keine adäquate emotionale Resonanz entwickelt, die der Situationen entspricht.

Auf der kognitiven (Interpretations-) Ebene versucht das Familiensystem seine Wahrnehmung und evtl. die damit verbundenen Emotionen dadurch zu blockieren oder sich zu schützen, dass neutrale oder phantasierte Bilder und Bezeichnungen in Vordergrund treten.

Definieren sie das Problem als Entwicklungsverzögerung, könnten sie eine Normalisierung der Entwicklung phantasieren, „Mein Kind ist nur faul“ , könnte z.B. ihren Druck rechtfertigen. Angst kann als Sensibilität und Zurückhaltung definiert werden.

Es ist anzunehmen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklungsprogression geringer ist, je weniger eine Störung, eine Auffälligkeit bzw. ein Symptom wahrgenommen, in einem Bedeutungskontext eingebunden und in seiner emotionalen Gestaltung empfunden wird.

Die Störungsdynamik, die Anpassungs-, und Kompensationsprozesse im Familiensystem auf der einen Seite und die Wachstumsdynamik auf der anderen Seite regeln sich bei einer Entwicklungsstörung gegenseitig, sie sind wahrscheinlich für die weitere Entwicklungsprogression eines Kindes von großer Bedeutung, da dem Veränderungsprozess eine Dynamik der Störung entgegensteht, die den Spielraum für Veränderung in der Kindesentwicklung begrenzen kann.

In dieser Arbeit gehe ich von der Hypothese aus, dass

· sich das kindliche System (individuelle Entwicklung des Kindes) und
das Familiensystem in der Dynamik sehr stark aufeinander beziehen,

· in einer Therapie Übertragungs- und Anpassungsprozesse zwischen den
drei Systemen Kind, Familie, Therapie stattfinden, die einerseits
Blockierungen in der Therapie erklären können, andererseits auch für
positive Veränderungen in der Therapie eingesetzt werden können.

Die Störung im kindlichen System, die Umorganisation und Anpassung im Familiensystem infolge dieser und die dynamische Übertragung ins Therapiesystem sind als eine Ganzheit zu betrachten, die für den Therapieprozess wesentlich sind und deren Einbeziehung zu einer positiven Veränderung in einem therapeutischen Prozess in der Behandlung entwicklungsauffälliger Kinder beitragen kann.

Die Erfassung der Systemdynamik (Systemübergreifende Dynamik) hilft uns:

· die Störungsdynamik im Problemsystem zu begreifen,

· den Weg zu finden, um „ins Stocken geratene“ Therapieprozesse über
das Therapiesystem zu beeinflussen und somit dem Prozess der
Entwicklung des Kindes in einer Wachtumsdynamik in einem
Lösungssystem hinzuleiten.

Ich versuche bei diesem systemischen Ansatz von Problemsystemen überzugehen in Lösungssysteme, die mit dem Therapieauftrag vereinbar bleiben.

3    Systemebenen

1. Individuelles System des Kindes:

Diese Ebene repräsentiert individuellen Kompetenzen und Grenzen eines Kindes im funktionellen, emotionalen und sozialen Bereich.

Eine Auffälligkeit in der Entwicklung des Kindes, die vom Arzt oder durch Beobachtungen im Kindergarten, in Spiel- oder Turngruppen, durch Auffälligkeiten im Leistungsbereich oder im Verhalten, durch Vergleiche mit anderen Kindern, durch die Eltern selbst oder durch andere festgestellt wird, veranlasst die Eltern, ihr Kind zur Untersuchung vorzustellen.

Die funktionelle Störung in Form der Entwicklungsstörung des Kindes führt in der Regel nach der Untersuchung und Diagnosestellung zu einer funktionalen Therapie. Diese funktionelle Therapie wie Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie…wird in den Mittelpunkt gestellt. Es wird von ihr erwartet, dass sie das funktionale Problem des Kindes löst, indem das Kind seine Ziele in der funktionalen Entwicklung erreicht, ohne dass weitere Kontexte wie die aus dem sozialen oder familialen Bereich direkt einbezogen werden. Das Familiensystem kann regulär soweit als „Hilfssystem“ einbezogen werden, soweit dies für die Motivation des Kindes und der Eltern erforderlich ist. Die Kooperation der Eltern auch hinsichtlich der Umsetzung der funktionalen Therapie ins häusliche Milieu wird von den Therapeuten erwartet.

Der Fokus „Funktionsstörung des Kindes“ bildet insofern die zentrale Instanz für die Vorstellung eines Kindes seitens der Eltern, sie erwarten, dass dieses Problem (Entwicklungsstörung) gelöst wird.

Eine Störung in der Entwicklung eines Kindes induziert aber auf der anderen Seite neben der funktionellen Probleme wie erwähnt eine Störungsdynamik, die sich nicht nur dadurch ausdrückt, daß das Kind eine Entwicklungsbeeinträchtigung hat oder keine ausreichende Entwicklungsprogression zeigt, sondern auch daß sich Verhaltensweisen, Interaktionen und Handlungen der Eltern und des Kindes eine entsprechende Anpassung durchlaufen.

Störungssysteme weisen in ihrer Dynamik entweder eine gewisse Rigidität im Ausdruck und in der Anpassung an Veränderung in der Außenwelt. Das Kind toleriert sehr begrenzt Erfahrung und beschränkt sich auf Kontakte und Erfahrungen, die sich wiederholen oder wenig Veränderungen und Verschiedenheiten aufweisen. Diese Kinder bevorzugen gleichbleibende Informationen und Kontakte, es handelt insofern unkreativ, da es diese Informationen nicht entsprechend seiner eigenen Bedürfnisse variiert, sondern sie kopiert. Das Kind bleibt von der Außenstruktur abhängig und entwickelt nicht viel Eigenes. Diese Kinder sind an Bezugspersonen stark gebunden, die Mitteilungen sind personenorientiert, sobald sich der Kontext ändert oder die Struktur variiert wird, werden diese Informationen nicht begriffen. Sie bevorzugen Nachahmungen, statt eigene Schöpfungen.

Eine andere Art der Entwicklungsstagnation ist die chaotische Struktur. Wir beobachten neben der bekannten Unruhe und der Orientierungslosigkeit bei diesen Kindern, dass sie Beziehungen, Kontakte und Informationen „verkonsumieren“, ohne dass sie sich genug weiter entwickeln. Die Quantität der Reize und der Kontakte überwiegen gegenüber der Qualität. Informationen und Kontakte sind dafür da, „verschlungen“ zu werden.

2. Familiensystem:

Die Familie bildet das primäre Beziehungssystem des Kindes. Seine Fähigkeiten und Einschränkungen finden häufig in der Familie ihr erste Resonanz.

Entwicklungs- und Veränderungsprozesse des Kindes sind in Beziehung zum Kontext Familie zu setzen, in dem das Kind lebt und seine primäre Beziehung gestaltet. Eine Entwicklungsstörung verändert insofern die Beziehungsstruktur in der Familie ebenso, wie eine bestimmte Beziehung in der Familie auch die Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes verändert bzw. verfestigt. Häufig werden alte Regeln der Familie zur Lösung der veränderten Situation eingesetzt und zwar mit einem stärkeren Druck und weniger Spielräumen. Diese entwickelten Regeln entsprechen den Begrenzungen und Möglichkeiten dieser Familien bzw. ihrer Struktur.

Symptome und Auffälligkeiten in der kindlichen Entwicklung sind unabhängig von der Ursache auch im Kontext des Familiensystems zu sehen. Warum und wie ein Kind zu einem Zeitpunkt, in einer bestimmten Entwicklungsphase oder während einer bestimmten Lebenssituation der Familie bestimmte Auffälligkeiten entwickelt bzw. Räume für Auffälligkeiten und Störungen schafft, ist in diesem Kontext d.h. in Zusammenhang mit der Geschichte dieser Familie zu verstehen. Auch die Entfaltung von Fähigkeiten ist nicht nur eine Frage der Biologie.

Bei der Feststellung einer Entwicklungsauffälligkeit bei ihrem Kind bündelt sich bei der Familie die emotionale Energie in dieser Störung . Diese Orientierung auf die Funktionsstörung und der ausgeprägte Wunsch, dies ungeschehen zu machen, lässt Eltern meist nur in eine Richtung blicken. Auf der einen Seite sollte diese Entwicklungsstörung so schnell wie möglich „verschwinden“, auf der anderen Seite lässt diese Fokussierung keinen Raum für eine umfassende Prozessorientierung, eine genauere Wahrnehmung, eine differenzierte Gefühlsregistrierung und eine adäquate kognitive Verarbeitung zu.

In dieser Position sind häufig Eltern nicht mehr in der Lage, das Umfeld der Störung zu sehen. Sie handeln wie in einem Notfall, ohne die eigene Situation und die der Familie insgesamt in Betracht zu ziehen. Fragen, die sich auf ihre Situation beziehen, werden nicht selten zurückgestellt, da „erst das Kind wichtig ist“. Diese Fixierung auf die Störung oder Behinderung kann lange Zeit oder lebenslang wichtiger als alle anderen auftretenden Fragen im familiären Bereich bleiben.

Diese anfängliche Anpassung des Familiensystems hinsichtlich der Entwicklungsstörung wird nicht selten ein Bestandteil des Systems. Hierzu gehört die Fixierung auf die Störung als ein selbständiges Phänomen, die Suche nach einem funktionalen Weg dominiert ihre Aktivität, was es sich in Form einer ständigen Suche nach einer anderen oder mehreren Behandlungsmethoden zeigt oder indem dieser Prozess der Funktionalität zum eignen Idealbild oder eigener beruflichen Identifikation der Eltern oder eines Elternteils wird.

In dieser Situation, in der die Eltern den Zusammenhang der Funktionsstörung mit dem Familiensystem nicht erkennen können, würde der Vorschlag einer Familientherapie eine „kranke Familie“ implizieren mit evtl. nachteiligen Folgen für den Therapieprozess.

3. Therapiesystem:

Ein Therapiesystem konstituiert sich um einen „Therapieauftrag“ ( K. Ludewig 1992). Der Auftrag orientiert sich in der Regel auf die Entwicklungsprogression des Kindes, ohne daß die Familie in ihrer inneren Struktur zu sehr angetastet wird. Solange Therapien in der herkömmlichen Art ausreichen, besteht keine Notwendigkeit, familiensystemische Aspekte zu integrieren Wir sind uns natürlich darüber im Klaren, dass Therapieprozesse auch ohne systemische bzw. familientherapeutische Ansätze positiv und entwicklungsfördernd verlaufen. Manche Therapien verlaufen von vorne herein gut, andere bedürfen der Unterstützung durch begleitende Gespräche, andere stagnieren, trotz aller Mühe. Funktional orientierte, gut laufende Therapien können unbewusst kreative Therapien sein mit systemischen Gedanken. In diesen Therapien scheinen die Stagnationsanteile aus der Interaktion des Familien- und Therapiesystems nicht zu dominieren.

Stellen wir aber fest, dass die funktionale Therapie im üblichen Umfang mittels Beratung und Anleitung der Eltern nicht ausreicht, dann stehen wir vor dem Problem, wie wir den neuen Auftrag mit den Eltern verhandeln. Auch wenn die Eltern Ihre Zustimmung für Familiengespräche geben, sind sie eigentlich wegen einer funktionalen Therapie zu uns gekommen, sie würden möglicherweise ihre Zustimmung für solche Gespräche geben, um ihrem Kind zu helfen oder weil man es von ihnen erwartet und nicht immer weil sie sich auf den Prozess einlassen wollen. Diese Dynamik kann man erkennen, wenn es zwischen Entwicklungsstörung und Beziehungssystemen im Gespräch mit Eltern nur schwer oder kaum Verbindungen herzustellen wäre.

Bei einem stagnierenden Therapieprozess erleben wir häufig auch im Therapiesystem entweder enge, gleichbleibende Beziehungsräume, mit begrenzter Variation und Intoleranz von Inputvariationen bei der rigiden Form oder diffuse Dynamik, in der unverbindliche Kontakte und Beziehungsformen stattfinden, mit kaum Konstanz und Gleichmäßigkeit bei der chaotischen Form.

Wenn sich das Kind in einer Therapie positiv weiter entwickelt, zeigt es sich autonomer, die Spielräume werden größer, Beziehungen im Therapiesystem gestalten sich variabler. Die Inputaufnahme erlebt Variationen und Modifikationen, das Familiensystem entwickelt Eigenes und hat auch eindeutigere Kriterien zur Aufnahme oder Ablehnung einer Information, das Kind wird unabhängiger, kreativer und entwickelt eigene Ideen.

In diesen Phasen des Therapieprozesses genügen manchmal Anregungen oder einfache Angebote, um strukturelle Veränderungen bzw. eine Entwicklungsanbahnung zu erreichen.

Bei der Therapie eines wahrnehmungsgestörten Säuglings hatte eine Therapeutin registriert, daß sie mit der funktionalen Therapie nicht weiter kam, das Kind blieb abhängig vom kompletten Schutz der Mutter, der Therapeutin war es unmöglich, ihren Platz in dieser therapeutischen Triade zu finden, das Kind machte in der Bewegungsentwicklung keine Fortschritte. Das Ansprechen der Situation mit der Mutter und das Schaffen einer neuen räumlichen Struktur, in der auch die Therapeutin nicht anstatt, sondern mit der Mutter ihren Platz fand, löste eine augenscheinliche motorische Entwicklungsprogression aus. Das Kind fand neue Entwicklungsräume, sich zu bewegen und sich mit dem Material auseinander zusetzen. Dieses Kind fand ziemlich schnell zu seinen nachzuholenden Erfahrungen.

In dem stagnierenden Prozess einer rigiden Form erlebt sich aber auch die Therapeutin anders. Blockierende Begegnungen engen die Spielräume ein, produzieren mehr Druck, engen die Phantasien und die Kreativität der Therapeutin ein. Anders ist es bei einem kreativen Prozess, wenn Ideen und Informationen ausgetauscht, modifiziert und verändert werden können.

Veränderungen in der kindlichen Entwicklung lassen Räume für Veränderungen im Beziehungsmuster entstehen, die wiederum Räume für bestimmtes Verhalten, für Kommunikationen und Wahrnehmungsmuster zulassen. Andererseits induzieren Veränderungen im Beziehungsmuster Räume für Veränderungen in der Entwicklung des Kindes.

Die Dynamik des Therapiesystems:

Das Therapiesystem, das sich meist aus einem Elternteil (meist Mutter), Kind und Therapeutin zusammensetzt, besteht aus einem homöostatischen Teil des Familiensystems und einem neuen veränderungsinduzierenden Teil aus der Therapieinstitution, vertreten durch die Therapeutin. Dieses neue (Therapie-)System ist ein eigenes System, in dem die gegenseitigen Erwartungen, Phantasien und Wünsche einen „Zwischenraum“ bilden, der im Gegensatz zum Störungsraum in einem Problemsystem in seiner Struktur vorerst eine gewisse Offenheit hat.

Wir haben hier mit einem gemeinsamen Fokus zu tun und das ist das Kind und genauer gesagt die Funktionsstörung ( Entwicklungsauffälligkeit) oder Verhaltensauffälligkeit des Kindes. Die wenigste Gemeinsamkeit zwischen beiden Teilen im Therapiesystem kann entstehen, wenn sich die Wahrnehmungsstrukturen zwischen Eltern und Therapeuten sehr unterscheiden z.B. wenn die Eltern vom Arzt oder anderen zur Untersuchung geschickt werden und nichts über die Auffälligkeiten wahrnehmen. Auf der anderen Seite des Spektrum stehen die Eltern, die selbst die Auffälligkeiten bei ihrem Kind beobachtet haben und Klärung suchen. Eine weitere Variante in der Struktur der elterlichen Wahrnehmung wäre, wenn die Eltern alles mögliche Auffällige an ihrem Kind finden und sich kaum von seiner (erreichten) „Normalität“ überzeugen lassen. Diese extremen Positionen bilden eine schwierige Therapiesituation, die eine systemische Begleitung bedürfen kann.

Wenn wir uns mit der Dynamik des Therapiesystems aus therapeutischer Sicht befassen, dann haben wir zu tun mit:

· dem funktionalen Fokus, indem nicht nur Einschränkungen und Defizite
in der Entwicklung des Kindes, sondern auch seine Fähigkeiten und
Kompensationen zu lokalisieren sind und zwar funktional und emotional,

· dem familialen Kontext der Störung, der die Wahrnehmung der
kindlichen Störung bzw. Behinderung des Kindes in der Familie, die
emotionale Reaktion darauf und ihre Interpretation hinsichtlich der
Entwicklungsstörung oder Behinderung beinhaltet und

· dem therapeutischen Kontext, bei dem es um Veränderungen
stattfinden, die in der Entwicklung des Kindes und/ oder im System
der Familie ( Wahrnehmung ,Emotionalität, Interpretationen) geht.
Auch der kognitiv- emotionale Prozess der Therapeutin mit ihren
Empfindungen, Gefühlen, Gedanken und Phantasien ist ein Teil dieser
Dynamik des Therapiesystems. In diesem Rahmen kann auch die Rolle
der Therapeutin im Therapieprozeß verstanden werden.

Ein wichtiger Faktor in diesem Therapieprozess ist die Registrierung der Interaktionen, die ablaufen, Mitteilungen, die gemacht werden und Handlungen, die registriert werden, wie Terminvereinbarungen, Verfügbarkeit und Verhaltensweisen während der Therapie.

Auf Grund der drei genannten Ebenen stellen wir Verbindungen her zwischen Funktionen/ Funktionsstörung des Kindes bzw. Symptomen einerseits und Kontexten, in denen diese funktionelle Struktur stattfindet, andererseits. Wir versuchen insofern, die Symptomatik bzw. Entwicklungsauffälligkeiten des Kindes in Bezug zu ihren Kontexten zu begreifen.

4. Teamsystem:

Eine weitere Ebene, die von der Dynamik erfasst werden kann, ist das Teamsystem. Das Team wird in der Regel eingeschaltet, wenn

· die Therapie unbefriedigend abläuft infolge einer Stagnation der
Entwicklung des Kindes,

· Probleme in der Beziehung oder den Interaktionen mit dem Kind,
mit der Familie bzw. einem Elternteil oder anderer Bezugsperson
auftreten,

· die Therapeutin mit der eigenen therapeutischen Arbeit unzu-
frieden ist.

Das Teamsystem ist durch ihre weitgehende Unbefangenheit bzw. Unkenntnis des „Falles“ eine wichtige „Fläche“, an der man die Resonanz des „Falls“ gut beobachten kann. In solcher Darstellung versuche ich aus der Defokussierung bzw. den multiple Foci in allen Systemebenen ein Gesamtbild zu bekommen.

Ich möchte einige wichtige Kriterien darstellen, die für die Strukturierung solcher Fallbesprechungen hilfreich erscheinen:

· Funktionalität oder Funktionsdynamik:

· Systemische Ebene:

Bei der Schilderung des Falles sollte auf die Interaktionen und Kommunikationsmodalitäten im Team geachtet werden, z.B. :Wie gehen die Teammitglieder miteinander um? Wie sprachfreudig oder spracharm ist die Kommunikation? Wie aktiv oder passiv sind die einzelnen Familienmitglieder?

· Individuelle und dyadische Ebene:

Die Schilderung des Falles durch die Therapeutin kann sehr informativ sein, z.B. wortreich, wortkarg, oberflächlich, sehr genau, hektisch, mit viel Hektik, sehr bedächtig…..

· Kognitiv- emotionaler Anteil ( Psychodynamik )

Es geht um die Stimmung, die Empfindung, Gefühle, Ideen, Gedanken, Wahrnehmungen und Phantasien, die in Zusammenhang mit der Therapie oder während der Besprechung auftreten.

4    Systemdynamik

Die systemdynamische Betrachtung ist, wie erwähnt, eine systemübergreifende Betrachtungsweise. Sie integriert die Foci zu einem Netz, insofern ist sie auch eine intersystemische Betrachtungsweise, in der die Strukturen der Störung aus verschiedenen Systemebenen sichtbar werden und zwar

· als Funktionsstörung wie motorische oder sprachliche Störung
beim Kind,

· als Beziehungs- oder Kommunikationsstörung auf der Familien-
systemebene, z.B. als Starrheit, Überaktivität, Hektik, Druckausüben,
Aktionismus, Fordern, Resignation/ Hoffnungslosigkeit oder

· als stagnierter bzw. dynamischer Therapieprozess auf der
Therapiesystemebene z.B. als schwieriges Verhalten des Kindes
in der Therapie, interaktionelle Probleme zwischen Therapeutin
und Kind und/ oder Eltern…

Diese Strukturen erscheinen teilweise voneinander sehr unterschiedlich und ohne Zusammenhang sind aber andererseits sind sie doch ähnlich in ihrer Struktur, wenn man sie prozesshaft betrachtet. So erscheint es z.B. anfangs verständlich, wenn Eltern bei der Anmeldung ihres Kindes, das im Verhalten sehr schwierig ist, Druck machen. Betrachtet man aber den therapeutischen Prozess aus einer späteren Sicht, stellt man nicht selten fest, dass diese Eltern denselben Druck weiter ausüben und selten zufrieden sind, auch wenn man in der Therapie Fortschritte erreicht hat. Diese Dynamik sieht man öfter bei hyperaktiven Kindern.

In Form des Fokus (Symptome, Entwicklungsauffälligkeit…) erscheinen Probleme als sehr kompliziert und unklar , man kann sie höchstens monokausal interpretieren. Sie sind aber auf der anderen Seite begreifbar Die verschiedenen „Schalen“ der Systemebenen lassen diese komprimierte Form des Prozesses „heller“ und deutlicher erscheinen. Diese Möglichkeit der Defokussierung durch den Einbezug der Systemebenen bzw. Kontexten erhellt scheinbar unverständliche Phänomene. Der Fokus als Symptom ist „Endprodukt“ eines Prozesses, der im Systemkontext entsteht, es handelt sich um einen komprimierten Prozess, dessen Inhalte erst verständlicher werden, wenn man diesen mit anderen Dimensionen und in anderen Kontexten sieht. Als Fokus sind Entwicklungsstörungen leichter erkennbar, aber schwerer therapierbar; in Zusammenhang jedoch zu verschiedenen Systemebenen sind sie schwerer wieder erkennbar, aber lassen eher zu Lösungen überleiten.

Als Brücke zwischen dem Therapie- und Teamsystem befindet sich die Therapeutin in einer Rolle, die durch die Dynamik der Entwicklungsstörung und die der Familie geprägt ist. Wie die Therapeutin von bestimmten Handlungen, Aussagen und Entwicklungen in der Therapie angesprochen wird, hängt von ihrer eigenen Struktur und ihren Erfahrungen ab.

5    Therapiekonzept

A. Der systemische Schwerpunkt:

In einer solchen systemischen Überlegung ist die Frage, auf welche Systemebene sollte der Schwerpunkt einer systemischen Therapie gesetzt werden?

Aus zwei Gründen entschied ich mich bei der Therapie mit entwicklungsauffälligen und behinderten Kindern für die Ebene des Therapiesystems und nicht die direkte Arbeit mit dem System der Familie:

1. Die Behandlung von Entwicklungsstörungen bei Kindern stellt in der
therapeutischen Betreuung eine besondere Situation dar, denn je
mehr sich Entwicklungsstörungen dem organischen Bereich zuordnen
lassen, um so schwieriger ist es nachzuvollziehen, dass der Einsatz
einer psychotherapeutischen Methode gerechtfertigt ist. Ein Kind, das
Auffälligkeiten oder eine Behinderung in seiner Entwicklung zeigt, ist
primär funktional beeinträchtigt, die Eltern und teilweise auch
Fachleute erwarten eine funktional orientierte Therapie und nicht
irgendwelche Nachforschungen in ihrem persönlichen oder familiären
Bereich. Auch wenn die Familientherapie bei solchen therapeutischen
Betreuungen nicht als Ersatz geboten wird, reagieren Eltern zumindest
auf solches Vorgehen empfindlich.

2. Der Auftrag seitens der Eltern ist in der Regel funktional definiert.
Die Hilfe, die wir in dieser Arbeit brauchen, ist eine Hilfe für die
Therapeutin und nur sekundär für die Eltern, es sei, dass die Eltern
Unterstützung brauchen und wollen, weil sie z.B. mit dem Verhalten
ihres Kindes nicht zurecht kommen. Hier wäre sinnvoll, die
Unterstützung da anzusetzen, wo sie auch gewünscht wird und das
ist im Therapiesystem. Das zu frühe, unstimmige oder einseitige
Ansetzen direkt an der Familie könnte die Therapeuten verleiten zu
denken, dass sie (die Therapeuten) selbst als wichtiger Teil des
Therapiesystems nicht in Vordergrund des Prozesses stehen und nur
das Familiensystem für eine Stagnation verantwortlich und für eine
Veränderung fähig wäre. In diesem systemischen Ansatz liegt der
Schwerpunkt der systemischen Arbeit in der Therapeutenrolle im
Therapiesystem.

Aus systemischer Sicht und wegen der genannten Erläuterungen ist davon auszugehen, dass eine Veränderung im Therapiesystem eine Veränderung in der Dynamik des Fa- miliensystem und im individuellen System des Kindes induzieren kann.

B. Rolle der Therapeutin:

Durch die Reflexion über das Therapiesystem mit seiner Dynamik und über die Rolle der Therapeutin wird möglich, aus dem „Sog“ der Störungsdynamik (im Problemsystem) herauszukommen und die Familie zu einer Wachstumsdynamik (im Lösungssystem) hinzuführen.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es wichtig ist, die Therapeuten lernen zu lassen, Problem- und Lösungssysteme in der Therapie zu erkennen und einzuordnen.

· Sie entwickeln eine Wahrnehmung und ein Gespür für Prozesse, die
gut verlaufen und andere, die blockieren.

· Sie lernen, die in Zusammenhang mit der Therapie entstehenden
Gefühle, Stimmungen und Empfindungen zu registrieren.

· Sie lernen, ihre Phantasien, Ideen und Gedanken, die in Zusammen-
hang mit der Therapie entstehen, wichtig zu nehmen.

C. Standort des Familiensystems:

Um den Standort der Familie zu begreifen, sollen wir wie bereits erwähnt Wahrnehmung des Familiensystems, emotionaler Stand und die kognitive Verarbeitung Elternsystems hinsichtlich der Entwicklungsstörung explorieren und zwar zu Beginn, während und in der Abschlussphase der Diagnostik oder der Therapie.

D. Mitteilungen des Familiensystems:

Um ein Familiensystem zu begreifen ist es wichtig, Mitteilungen zu verstehen, die während einer Therapie durch Handlungen oder teilweise unverbindlich erscheinende Aussagen signalisiert werden. Mitteilungen wie “ mein Mann hält die Therapie für nicht notwendig“ könnte die ambivalente Haltung des gesamten Familiensystems zum Ausdruck bringen. Ein immer Zuspätkommen zu den Therapieterminen könnte einen Kompromiss im Familiensystem hinsichtlich einer Inanspruchnahme einer Therapie andeuten.

Mitteilungen wie „die Oma sagt, dass ihrem Enkelkind nichts fehle“ und “ dass es sich genauso verhalte wie sein Vater“ könnten uns veranlassen anzunehmen, dass die Wahrnehmung des Systems noch an der Stufe der Nichtwahrnehmung steht und dass dieser Prozess noch an diesem Punkt stagniert.

E. Systemische Interventionen:

Die Interventionen in diesem Konzept konzentrieren sich, wie früher erwähnt, auf das Therapiesystem. Sie umfassen:

· Erkennen der Dynamik des Therapiesystems, d.h. die Therapeutin
lernt an Hand der Entwicklungsprogression, „Therapieklima“,
Mitarbeit der Eltern, Übernahme und Modifikation therapeutischer
Aufträge, Erhalt oder Verlust eigener Kreativität in der jeweiligen
Therapie… die Therapiedynamik zu begreifen, auch ihre eigenen
Empfindungen, registrierte Stimmung ( auch die eigene in Beziehung
zu Therapie), eigene Gedanken und Phantasien ernst zu nehmen,
um zu reflektieren, ob diese Anteile Teile dieser Dynamik sind.

· An Hand dieser kann begriffen werden, welche Rolle die Therapeutin
unbewusst übernommen hat, eine Rolle, die dazu beiträgt, die
“ Störungsdynamik “ zu stabilisieren oder eine Rolle, die aus eigener
Kreativität zu einer Veränderungs- und Wachstumsdynamik beiträgt.
In der Position der Stagnation heißt die Frage: „Wie kann die
Therapeutin ihre eigene Dynamik und Kreativität wieder gewinnen?“.
Hier ist es eine wichtige Aufgabe, mit der Therapeutin diese
Entdeckung zu machen. In der Regel sind Therapeutinnen durchaus
in der Lage, ihre eigene Position zu finden.

· Systempassende Interventionen an die Therapeuten oder bei
begleitenden Gesprächen mit den Eltern in Form von systemischen
Fragen, kompatiblen Informationen, Anstößen, Ansprechen von
Schlüsselthemen geben uns Informationen über „die Eigenschaft des
Systems“, z.B.: Wie flexibel oder verhärtet ist das System? Oder: Wo
steckt das System zur Zeit steckt?

Mit diesen Fragen ist nicht beabsichtigt, das System zu einer bestimmten Wahrnehmung, Emotionalität oder zu bestimmten kognitiven Inhalten zu erzwingen, sondern es sollte durch einfühlsames Fragen, die Aufmerksamkeit auf einen Punkt bzw. Ort hinlenken.

· In bestimmten Fällen ist es auch möglich, paradoxe oder direkte
Interventionen durchzuführen, z.B. wenn es sich um ein zu rigides
System handelt oder wir merken, dass es sich um Dynamik handelt,
die für direkte Mitteilungen sensibel ist oder es hier auch im Sinne
des Kindes wichtig ist, direkt zu intervenieren.

Wir haben gelernt, unsere Therapien unter systemischer Sicht zu betrachten. Es wird schon zu Anfang der Therapie deutlich, ob diese evtl. gewünschte Therapie für Kind und Familie sinnvoll ist und inwieweit eine Therapie für das Kind in diesem Familiensystem Sinn macht oder inwieweit eine bestimmte Therapie in diesem Familiensystem integrierbar ist, z.B. gehen wir auf Therapiewünsche der Eltern eines Kindes mit Teilleistungsstörung nicht ein, wenn wir merken, dass diese Therapie die familiäre Sackgasse verstärkt, in der mit diesem Kind ohnehin viel geübt und gearbeitet wird. In diesem Fall kann es sinnvoll sein, vorerst in Abständen Elterngespräche und Beobachtungen des Kindes durchzuführen.

Es ist manchmal auch wichtig, den „Boden“ für das Kind durch eine Familienarbeit vorzubereiten, bevor man mit einer direkten Therapie mit dem Kind beginnt, oder es ist notwendig, mit einer Therapie mit dem Kind zu beginnen, um die Eltern zu einer bestimmten Therapie zu gewinnen.

6    Schlussfolgerung

Bei einer systemischen Orientierung in der Behandlung entwicklungsauffälliger Kinder ist es möglich, die funktionale Therapie durch die systemische Betrachtung und das Einsetzen systemischer Konzepte die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder zu verbessern. Insbesondere stagnierende Therapien können durch den systemischen Einbezug in ihrer Dynamik deutlich beeinflusst werden.

Ausgehend von der Hypothese, dass kindliche Entwicklung, Familiensystem und Therapiesystem einer Übertragungsdynamik unterliegen, setzen wir in diesem Konzept einen weiteren Schwerpunkt (zusätzlich zu der funktionalen Therapie) im Therapiesystem, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf die Dynamik und Interaktionen in der Therapie lenken. Handlungen, Mitteilungen, Interaktionen in der Familie und im Therapiesystem auf der einen Seite, registrierte Emotionen, entstandene Gedanken und Phantansien bei der Therapeutin auf der anderen Seite können auf eine Störungsdynamik hinweisen.

Die Analyse der kindlichen Entwicklung, das Sammeln von Informationen über das Familiensystem und die genaue Betrachtung der Dynamik im Therapiesystem helfen uns unter Einbezug der Projektionsfläche des Teamsystems eine systemische Wahrnehmung für den jeweiligen „Fall“ zu entwickeln, um Verständnis für die entstandene „Sackgasse“ in einer Therapie zu bekommen, so dass wir eine Vorstellung vom Entwicklungsprozess des jeweiligen Kindes finden können. Diese Informationen aus den verschiedenen Systemebenen und ihre Integration helfen uns, Verhalten, Handlungen, Beziehungsstrukturen und Interaktionen zu verstehen. Im Verständnis der eigenen Rolle im Therapiesystem besteht die Möglichkeit, Veränderungen durch die eigene Rollenänderung im Therapiesystem zu induzieren. Diese Induktion ist um so eher möglich, je besser die therapeutische Beziehung ist. Dabei ist es wichtig, den Prozess zu begleiten, damit dieser unter der Flut der Informationen kontrollierbar bleibt. Gerade hier besteht die Gefahr, den Anschluss an die Familie zu verlieren, was auch den Therapieabbruch bedeuten kann. In einem positiven Fall wird die Dynamik zur Veränderung im Sinne einer Entwicklungsprogression gelenkt.

Zusammenfassung

Es ist nicht nur die Frage, wie das Familiensystem die kindliche Entwicklung beeinflusst, sondern, wie sich Auffälligkeiten in der kindlichen Entwicklung auf die Familiendynamik und ihre Organisation auswirken.

Die interaktive Dynamik zwischen kindlichem System, Familiensystem und Therapiesystem führt nicht selten zu einer Therapiestagnation, welche ihre Auswirkung in nicht ausreichenden oder fehlenden Entwicklungsfortschritten des Kindes in der Therapie zeigt.

Unser Konzept liegt in der Bereicherung dieser Therapien ( Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie …etc.) durch die systemische Perspektive und orientiert sich an der Dynamik des Therapiesystems. Diese Therapiedynamik gibt uns Informationen über die Qualität der systemübergreifenden Dynamik und zeigt Wege auf, bezüglich einer erforderlichen Veränderung der Rolle des Therapeuten im Therapiesystem. Sie hilft uns, aus der Störung herauszukommen und die Möglichkeiten einer funktionellen Therapie zu vergrößern, damit das Kind in der Lage sein wird, funktionell zu lernen.

Literatur: beim Verfasser

Dr. med. Saadi Jawad
Sozialpädiatrisches Zentrum
Bahnhofstr. 21-23
D-96450 Coburg